Karl Kraus – „Wiener Rundschau“, 1896/97, III
Man sieht, es ist nicht immer nur das Fachinteresse, auf welches Gäste des Literatur-Cafés rechnen können, einige tragen ja doch auch eine allgemein menschliche Komik zur Schau. Man verzeihe, dass sie unbedeutend sind, und man wird sich ihrer Wirksamkeit freuen. Der kleinste Streber, der in dem Kampfe um das Kaffeehaus-Dasein sich durchsetzen will und nach einer festen Position an dem Tische der fertigen Literaten ringt, darf nicht übersehen werden. Die Entwicklung werdender Talentlosigkeiten gibt eine Fülle von Beobachtungen an die Hand, und pikant ist es, durch ein Kaffeehausfenster zuzusehen, wie sich heute der Neuling durch den gestern gemachten Mann lancirt. – Da fällt zunächst ein Schriftsteller auf, der sich aus schüchternen Anfängen zum Freunde des Burgtheaterautors emporgerungen hat. Sechs Uhr ist es, also Zeit, dass er auf dem Plan erscheine. Ein Parvenu der Gesten, der seinen literarischen Tischgenossen Alles abgeguckt hat und ihnen die Kenntniss der wichtigsten Posen verdankt. Haben es die Andern in der Unnatürlichkeit bereits zu einiger Routine gebracht, ihm sieht man stets noch die Mühe an, die ihn seine Nervosität kostet. Immerhin hat er sich heute doch schon glücklich drei Nerven zusammengescharrt, die ihm die Ausübung einer bescheidenen Sensitivität erlauben. So legt er besonderen Werth darauf, es nicht vertragen zu können, wenn man mit einem Messer auf den Teller kratzt. Aus solchen Vorfällen, die in Andern das normale Unbehagen erzeugen, empfängt er die Anregung zu dichterischem Schaffen. Hier liegen Art und Stärke seines Talentes. Nach den Stoffen hatte er nie weit zu gehen. Er schrieb immer das, woran seine Freunde gerade arbeiteten, und da die Jung-Wiener Schule einstimmig das Thema vom Sterben gewählt hat und mit vereinten Kräften dem Tode ein paar Novellen abzuringen bemüht ist, sehen wir ihn mit der Anempfindung einiger Sentimentalitäten über Begräbnisse, Friedhofskränze und Hinterbliebene eifrig beschäftigt. Seine Production muss man sich so vorstellen, dass er, eine Art Nuancenzuträger, sämmtliche Einfälle seines accreditirteren Freundes in Aufbewahrung hat und dafür jeden zehnten benützen darf. Wiewohl er in einem Ausverkaufe von Individualitäten billig zu einer solchen gekommen sein soll, hat sich ihm das reine Künstlerthum auf die Dauer doch nicht rentirt. Er, dem es in seinem Kreise stets eingeschärft worden war, auf die Tagesschriftsteller mit Verachtung herabzusehen, lief bald in den Hafen der Journalistik ein, aber mit dem festen Vorsatz, sich als ehemaliger Literat über das Niveau seiner nunmehrigen Collegen zu erheben. Glücklicherweise war ihm noch von früher her der Tonfall modernen Styles im Ohre geblieben, seine Freunde hatten ihm einige unterstandslose Beobachtungen mit auf den Weg gegeben, und ein paar verkommene Nuancen, die einst vom Tische abgefallen waren, raffte er noch in Eile auf. Im Uebrigen mit einer tüchtigen Portion Selbstvertrauen begabt, wohl wissend, dass er, wo er sich nicht auf seine Freunde verlassen könne, schon auf eigene Faust undeutsch schreiben werde, begann er seine Thätigkeit. Zunächst fragte er einen Wachmann nach der Lage des Theaters, dessen Tradition zu bekämpfen er entschlossen war. Man kann sagen, er hat bis heute doch die wichtigsten Stücke Schiller’s und Shakespeare’s gesehen – warum zögert die Direction so lange mit dem Königsdramen-Cyklus? „Hamlet“ z. B. sah er gelegentlich einer Neubesetzung zum erstenmale, wobei er als gewissenhafter Recensent nicht verfehlte, vorher sich von der Directionskanzlei das Manuscript zu erbitten; und mit der ganzen Lapidarität, mit der sich seine Seichtheit nicht selten auszudrücken liebte, soll er kürzlich, entzückt, so weit es seine Würde zuliess, ausgerufen haben: „Man wird die Wolter im Auge behalten müssen!“. Stets hat er sich als der schneidige, unabhängige Kritker erwiesen, der weder nach oben noch nach unten Concessionen macht, ja selbst mit Hinansetzung aller grammatikalischen Rücksichten gegen Uebelstände energisch Stellung zu nehmen bereit ist. Der reformatorische Eifer berührte sympathisch, wenn er, ein eingewurzeltes Vorurtheil bekämpfend, dem Schauspieler Martinelli eine „breite, behagliche Gemüthlichkeit“ nachrühmte. Als Ironiker stand er allzeit auf eigenen Gänsefüsschen, und wenn es die Geisselung des Wiener Komodiantencultus galt, drohten in der Druckerei die Anführungszeichen auszugehen; denn immer neue uninteressante Seiten wusste er diesem Thema abzugewinnen. Einige Fremdworter kamen ihm so neu vor, dass er es mit ihnen immer wieder versuchen zu müssen glaubte; so behauptete er stets, dass Herr Reimers ad spectatores spreche und dass das Fräulein Bleibtreu karyatidenhaft sei. Vielleicht war hier die Freude, Ausdrücke, die man sonst erst im Obergymnasium kennen lernt, schon nach vier Classen zu beherrschen, doch etwas zu stark betont.
Eines Tages liess er sich Muther’s „Geschichte der Malerei des XIX. Jahrhunderts“ als Recensionsexemplar kommen und ward so Kunstkritiker. Als bald darauf die Muther-Hetze losging, der berühmte Kunsthistoriker vielfach des Plagiats beschuldigt und Alles hervorgeholt wurde, was bis dahin in Deutschland in seinem Fache geschrieben worden war, erzählte man sich, Muther habe auch unsern Recensenten benützt.
Im journalistischen Dienste hart mitgenommen, hat sich der Literat bis heute doch seine Eigenart zu wahren gewusst Die Verwechslung des Dativs mit dem Accusativ gelingt ihm noch immer mit unverminderter Jugendfrische. Anfänglich hatte er wohl mit dem Widerstand der Setzer zu kämpfen, die bekanntlich immer klüger sein wollen als der Schriftsteller und gerne corrigiren, weil sie für undeutsch ansehen, was individuellster Ausdruck einer künstlerischen Persönlichkeit ist, aber bald lernten sie die Eigenart unseres Autors respectiren, und sein Talent setzte sich durch. Ungehindert konnte er sich nun ausleben, und man erkannte ihn auch in nicht unterzeichneten Artikeln. Wenn er z. B. bei einer alternden Schauspielerin den „heissen Athem“ vermisste, „der Einem nur aus kindlichem Mädchenbusen anweht“, so wäre es ein Uebriges gewesen, hier auch noch seine Chiffre hinzuzufügen. Selbstverständlich begegnet er die Leute, aber auch diesen Accusativ weiss er wieder zu verwechseln und gelangt zu einem ganz unerwarteten Resultate, wenn er schliesslich von Leuten spricht, die Einem begegnen, und so durch ein Versehen das Richtige findet. Anlässlich des Sonnenthal-Jubiläums im Vorjahre hat er, der Bedeutung des Gefeierten entsprechend, mehrere falsche Casusse gebracht. Er erzählte damals, „die vierzig Jahre, die der Künstler dem Burgtheater treulich gedient“, hätten „ihm zum Repräsentanten dieser geliebten Bühne gemacht“, man habe Sonnenthal „zu verstehen geben wollen, dass man ihm noch immer gerne in seinen jugendlichen Rollen zu sehen wünsche“, – woran er die allgemeine Bemerkung knüpfte, der Schauspieler müsse seine Rolle leben, er müsse „in sie aufgehen“. Wo es die Besprechung von dramatischen Anfängern galt, zeigte er sich stets nachsichtig; ein Tadel, erklärte er, würde „Einem nur au niveau mit dem Dilettanten setzen“. Als die Zeitung, bei der er thätig ist, einst die telegraphische Nachricht brachte, „die serbisch-montenegrinische Verbindung mitsammt des daranhängenden Heirathsgedankens“ stehe in Frage, liess man sich damals vielfach zu der Meinung verleiten, dass er auch die Depeschen einrichte, was einer entschiedenen Ueberschätzung seines Wirkungskreises gleichkam, da das Ressort unseres Freundes ausschliesslich die Verwechslung des Dativs mit dem Accusativ, nie mit dem Genitiv, und auch diese nur im Theater- und Kunsttheile, umfasst.
Kein Mensch wird ernstlich behaupten, dass solche und ähnliche grammatikalische Eigenheiten einem in der literarischen Carrière behindern können. Vollends durch die Prätention, mit die er seine Seichtigkeiten vorbringt, vermag ein Schriftsteller jederzeit auf dem Leser zu wirken.
Was nun über den literarischen Rahmen hinausreicht, geht niemandem etwas an. Einige wollen sich zu den von ihm vertretenen Ansichten nicht bekennen; dafür gibt es wieder zahlreiche, die – gläubiger sind. Dies bestärkt ihn in seiner Zuversicht und gibt ihm Muth zu neuen Thaten. Die Bühnenerfolge seiner Freunde haben ihn berauscht, jetzt heisst das Ziel seines ganzen Strebens: Aufgeführtwerden!, und schon sehen wir ihn einen kurzen Seitenweg hinter die Coulissen des Burgtheaters einschlagen….
Und nun von ihm, der an dieser Stelle eine unerwartete Bevorzugung erfahren, hinweg zu andern Tischgenossen, die schon warten und sich über Parteilichkeit der Bedienung beklagen. Der bleiche Dichter des athenischen Cassenstückes ist bereits ungeduldig, wiewohl er zu gereift ist, um sich noch über irgend etwas aufregen zu können. Er, der weder radfahren noch kegelschieben kann, mithin dem Director der Hofbühne die Entdeckung seines Talentes erheblich erschwerte, hat sich doch im Burgtheater festzusetzen gewusst. Dies soll daher kommen, weil sein Werk eine höchst glückliche Verbindung missverstandenen griechischen und nicht erfassten modernen Geistes bedeutet. Für das Wienerthum seiner Umgebung bringt er eine unsäglich bukowinerische Note mit, die sich insbesondere darin kundgibt, dass er den x-füssigen Jambus mit grosser Geschicklichkeit anwendet. Sein Stück erweckt den Eindruck, als ob es über Aufforderung Büchmann’s geschrieben wäre. Es enthält eine Reihe überaus mühsam geflügelter Worte, in der Art: „Die Sehnsucht nach dem Glück ist mehr als Glück“, oder: „Wie wenig kennt das Volk doch seine Geister!“. Und über dem Ganzen liegt es wie ein Hauch von Gindely, aber vom kleinen. – Der Ruf eines Grillparzer-Epigonen schmeichelt ihm so sehr, dass er, um mit seinem Vorbilde wenigstens etwas gemeinsam zu haben, beabsichtigen soll, sich jetzt um eine Staatsbeamtenstelle zu bewerben und auch fürder in Allem sich streng nach des Dichters Biographie zu richten. Wenn er schon aus der alt-österreichischen Tradition nicht herausgewachsen ist, entgehen lassen will er sich sie keinesfalls. Möge es ihm nach den Aufregungen und Strapazen der Première nun auch gegönnt sein, in Ruhe zu erleben, was er in seinem Stücke gedichtet hat!
Wer ist jener lebhafte Jüngling, der eben an die Herren des Kreises mit Fragen aller Art herantritt? Eine der seltsamsten Erscheinungen der Kaffeehauswelt, hat er sich dadurch, das man ihn noch niemals sitzen sah, zu einer stehenden Figur des Griensteidl herausgebildet. Er hängt insofern mit der Literatur zusammen, als ihm die Aufgabe obliegt, des Nachts die Dichter nach Hause zu begleiten. Hat einer der Herren einen Erfolg aufzuweisen, so wird Er grössenwahnsinnig, und oft ist er durch das Lob, das Andere ernten, recht übermüthig geworden. Mit seinen literarischen Collegen hat auch er von Goethe manche Anregung erfahren:
– Er ging ins Kaffeehaus so für sich hin,
– Um nichts zu nehmen, war sein Sinn.
Dabei ist er der fleissigste Stammgast. Die Marqueure haben sich an diesen Zustand gewohnt. Anfangs musste er wohl, wenn die Andern bestellt hatten, stets wiederholen: „Mir bringen Sie nichts“; jetzt ist Heinrich schon eingeweiht und sagt immer gleich von selbst: „Herr Doctor – wie gewöhnlich.“ Nur selten kommt es vor, dass Heinrich in seiner feinsinnigen Weise in den Bart brummt: „Zum Anregungenholen allein ist das Kaffeehaus nicht da“, aber sonst kann unser Gast mit der Bedienung zufrieden sein; er müsste sich beklagen, wenn sie zu aufmerksam wäre. Man hilft ihm nicht von seinem Hut und schweren Winterrock, und lässt ihn stundenlang Vorträge über die Bedeutung der ihm Zuhörenden halten. So steht er da, Begeisterung schlürfend, heftig gesticulirend: er wäre ein grosser Schmock geworden, auch wenn er ohne Hände auf die Welt gekommen wäre.