Karl Kraus – „Wiener Rundschau“, 1896/97, II
Man mag kühn behaupten, der Wirkungskreis, den der Herr aus Linz in Wien erlangte, habe sich auf drei, bei gut besuchtem Kaffeehause vier Tische erstreckt. Vom linken Spiegeltisch an beginnt seine Popularität nachzulassen. Hier postirten sich jene Literaten, die, nicht gewillt, seine absolutistische Geschmacksdictatur bedingungslos anzuerkennen, sich bald von ihm losgesagt und als selbstständige Poseure etablirt hatten. Indes, der Einfluss des Mannes, der, wo er sich nicht direct für eine Unbegabung eingesetzt, doch auch noch kommenden Mittelmässigkeiten den Boden gelockert hat sollte nicht ohneweiters vergessen werden. Die solchen Impuls empfangen hatten, gingen allerdings, während er an der Ueberschätzung neuer Talente arbeitete, den Weg eigener Entwicklung. Es ist ihnen nicht leicht gemacht worden. Eigener Kraft verdanken sie den heutigen Besitz ihrer Nervenschwäche; Self-made-men der Unnatürlichkeit, mussten sie sich ihre Blasirtheit erst erwerben. – Es ist nun rührend, wie aristokratische Dichter, deren Adel bereits zahlreiche Degenerationen umfasst, sich über Standesunterschiede hinwegsetzen und ohne Stolz mit den Emporkömmlingen der Decadence verkehren. Diese sind eben heute der eigentliche Hort dessen, was man im Auslande als moderne wienerische Kunst zu bezeichnen pflegt, – Jung-Oesterreich. Wien heisst der geistige Nährboden dieser Poeten, denen ein gütiges Geschick das süsse Vorstadtmädel schon in die Wiege gelegt hat, und die so genügsam sind, dass sie mit ein paar Wiener Stimmungen ihr ganzes Leben auszukommen hoffen.
Die moderne Bewegung, die vor einem Jahrzehnt vom Norden ausging, hat hier nur rein technische Veränderungen hervorgerufen. Von der inneren Wirkung neuen Styls, der das Stoffgebiet E-Learning erweitern half und sociale Probleme ins Rollen brachte, ist unsere junge Kunst verschont geblieben, die geradezu in der Abkehr von den geistigen Kämpfen der Zeit ihr Heil sucht. Wenn Gedankenarmuth in Stimmungen schwelgen will, muss das Wienerthum für die Farbe herhalten, und der Localpatriotismus erwacht zu neuem, sensitiverem Dasein.
Ueber den vielen Kaffeehaussitzungen, die zum Zweck einer endgiltigen Formulirung des Begriffes »Künstlermensch« abgehalten wurden, sind so manche dieser Schriftsteller nicht zur Production gekommen. Bevor man sich nicht über eine Definition geeinigt hatte, wollte sich keiner an die Arbeit trauen, und manche hatten sich längst als Stammgäste einen Namen gemacht, bevor sie dazu kamen, sich ihn durch ihre Werke zu verscherzen. Griensteidl ist nun einmal der Sammelpunkt von Leuten, die ihre Fähigkeiten zersplittern wollen, und man darf sich über diese Unfruchtbarkeit von Talenten nicht wundern, welche so dicht an einem Kaffeehaustisch beisammen sitzen, dass sie einander gegenseitig an der Entfaltung hindern. Prätention scheint ja in Fülle vorhanden zu sein, überall, an allen Ecken und Enden, keimt eine junge Manierirtheit, wie sie bis nun keine zweite Literaturbewegung hervorgebracht hat: wenn jetzt auch noch Begabung hinzukommen sollte, werden wir jungen Oesterreicher getrost das Ausland Ungarn Tourismus in die Schranken fordern können.
Bis heute war in diesen Kreisen eine affectirte Beziehung zur Kunst vorgeschrieben, und das eigenartige Können der Jungwiener Dichter besteht darin, dass sie ein grosses Interesse für lebemännische Alluren an den Tag legen, dass sie imstande sind, von den Eindrücken eines Ronacher-Abends durch Wochen zu zehren, die Komik eines Clowns mit Behagen zu geniessen und bei jedesmaligem Zusammensein die ältesten Anekdoten auszutauschen. Derselbe Geist, wenn er aus solcher Lebensfülle in beschauliches Alleinsein flieht, findet Stimmungstrost in dem Gedanken an die „stillen Gassen am Sonntag-Nachmittag“ und an das „unsäglich traurige Praterwirthshaus an Wochentagen“, – immer wiederkehrende sentimentale Wahnvorstellungen, die diesen rührend engen Horizont ausfüllen. Auch haben sie in Wien einige Oertlichkeiten gepachtet, in die sie ihre ganze eigene Empfindungswelt einspinnen. So müssen die Fischerstiege, der Heiligenkreuzerhof, die Votivkirche und die Karlskirche ihren Bedarf an Stimmungen decken. „Die Karlskirche gehört mir!“ rief einer eines Tages, da der Tischnachbar sie ihm streitig machen wollte. Als Letzterer sich mit dem Wienufer zufrieden gab, war der Grenzstreit der Stimmungen friedlich beigelegt.
Der am tiefsten in diese Seichtigkeit taucht und am vollsten in dieser Leere aufgeht, der Dichter, der das Vorstadtmädel burgtheaterfähig machte, hat sich in überlauter Umgebung eine ruhige Bescheidenheit des Grössenwahnes zu bewahren gewusst. Zu gutmüthig, um einem Problem nahetreten zu können, hat er sich ein- für allemal eine kleine Welt von Lebemännern und Grisetten zurechtgezimmert, um nur zuweilen aus diesen Niederungen zu falscher Tragik emporzusteigen. Wenn dann so etwas wie Tod vorkommt, – bitte nicht zu erschrecken, die Pistolen sind mit Temperamentlosigkeit geladen: „Sterben“ ist nichts, aber leben und nicht sehen….!
Nicht um Leben aufzunehmen, treten diese Nachempfinder dann und wann aus dem Schneckengehäuse ihres angeblichen Ich heraus, nur um dessen coquette Windungen andächtig zu betrachten. Ein an franzosischen Vorbildern geübter Formensinn läßt sie an der dekorativen Ausgestaltung ihrer nächsten Umgebung, ja der eigenen Person ein naives Vergnügen finden. Da ist ein Schriftsteller, der so grosse Erfolge auf dem Gebiete der Mode aufzuweisen hat, dass er sich getrost in eine Concurrenz mit der schönsten Leserin einlassen kann. Diesem Autor, der seit Jahren an der dritten Zeile einer Novelle arbeitet, weil er jedes Wort in mehreren Toiletten überlegt, liefert ein persischer Tuchfabrikant die besten Stoffe. Mit eisernem Fleisse schafft er an seiner Kleidung und feilt sie bis in das feinste und subtilste Detail; seine Hemden verblüffen, und da er sehr productiv ist, lässt er exotische Muster in rascher Abwechslung aufeinander folgen. Stets auf Schönheit und möglichste Exactheit einer jeden Pose bedacht, versteht er Alles um sich herum zu geschmackvoller Wirkung zu vereinigen, indem er beispielsweise nur mit solchen jungen Leuten verkehrt, deren Anzug zu dem jeweiligen seinen passt, und er geht dann in der so hergestellten Harmonie der Freundschaft seelisch ganz auf. Ein gut gelegter Faltenwurf ist ihm Erlebniss, und wenn er spricht, wendet er peinliche Sorgfalt daran, seine Oberlippe decorativ zu verwerthen. So drapirt er sich selbst sein Milieu und tapeziert sich gemächlich sein Leben aus.
In seinem Kreise hat er einen sehr heiklen Dienst zu versehen. Seine Aufgabe ist es, den Toilettezustand jedes ankommenden Literaten zu visitiren und allfällige Correcturen vorzunehmen. Das gelingt unserem Dichter oft mit ein paar charakteristischen Strichen. Hier ist er gerade damit beschäftigt, selbst die letzte Hand anzulegen, dort ertheilt er zweckmässige Weisungen, gibt einschlägige Winke und praktische Rathschläge; hier ergänzt er die fragmentarische Schönheit einer Bicycledress, dort spricht er durch einen vorwurfsvollen Blick die Unmöglichkeit eines ganzen Hosenstoffes aus. Sein prägnanter Tadel: „Das wird sich nicht halten.“ oder: „Das tragt man nicht mehr.“ oder „Mit Ihnen kann man nicht gehen.“; sein bündiges Lob: „Das kann so bleiben.“ Und man mag sich diese Kritik ruhig gefallen lassen, da unser Dichter selbst der Natur gegenüber mit ähnlichen Bemerkungen nicht zurückhaltend ist, indem er sich beim Anblick einer Landschaft schon wiederholt geäussert haben soll: „Das müsste etwas stylisirt werden!“ und nur selten das Lob spendet: „Das kann so bleiben.“