Historische Betrachtung der Anästhesie im Bereich der Mundhöhle von 1919 (Die Stammanästhesie am Oberkiefer)
Die Leitungsanästhesie im Oberkiefer sollte als Anästhesie der Nervenstämme am natürlichsten und einfachsten eine Anästhesie des Nervus infraorbitalis sein, dessen Zweige ja Nervi alveolares superiores posteriores et anteriores darstellen. Die Anästhesie dieses Nerven in der Fossa pterygopalatina am Foramen rotundum ist aber noch zu wenig bekannt, so daß man nur in anders unlösbaren Fällen zu ihr greifen wird. Meist erweist es sich als genügend, die Stämme der Alveolamerven selbst zu erreichen und man unterscheidet dementsprechend eine Leitungsanästhesie der hinteren und der vorderen Alveolamerven. Hierzu kommt noch die Anästhesie der N. palatini und des N. nasopalatinus zur Betäubung der Gaumenschleimhaut, da ja auch das Palatum durum von zwei Seiten her innerviert wird.
Die Leitungsanästhesie der Nervi alveolares superiores posteriores am Tuber maxillae.
Hier, wie bei jeder Leitungsanästhesie, haben wir die Aufgabe, Ziel, Einstichpunkt und Weg der Injektionsnadel anatomisch zu untersuchen und festzulegen. Das Ziel ist jene Stelle, an welcher die Nervi alveolares superiores posteriores in die feinen Knochenkanälchen an der Hinterwand des Oberkieferknochens, am Tuber maxillare, eintreten. Diese Löchelchen, 3 — 4 an der Zahl, liegen gewöhnlich recht dicht beieinander in einem kaum hellerstückgroßen Areale. Gelingt es uns, etwa das Zentrum dieser Knochenfläche zu erreichen, dann werden sämtliche hinteren Zahnnerven von der Lösung umspült. Ist jedoch ein mittlerer Zahnnerv vorhanden, dann findet sich seine Eintrittsstelle in den Knochen gewöhnlich ziemlich weit über dem genannten Knochenareale, ganz in der Nähe der Fissura orbitalis inferior. Der feine Kanal aber, in welchem der Nerv nach vorne und unten verläuft, kommt immer in die Nähe des Bezirkes, in welchem sich die Eintrittsstellen der Nervi alveolares supenores posteriores befinden. Da nun natürlich auch hier das an den Knochen gebrachte Anästhetikum nicht an der Knochenoberfläche Halt macht, sondern den hier sehr dünnen und vielfach durchlöcherten Knochen durchdringt, so wird auch ein eventuell vorhandener Nervus alveolaris superior medius vom Anästhetikum erreicht; im Gegensatz zu den hinteren Alveolamerven, die vor oder bei ihrem Eintritt in den Knochen getroffen werden, wird der mittlere Nerv aber während seines Verlaufes im Knochen anästhesiert, allerdings auch noch, bevor er in den Plexus dentalis eingeht. Fragen wir uns nun nach der Lage des Eintrittsfeldes der N. alveolares superiores posteriores in den Knochen, so müssen wir sagen, daß der Mittelpunkt dieses Areales im Durchschnitt 15 — 20 mm über dem Alveolarrande des 3. Molaren liegt. Da ein Überschreiten des Maßes nur zur Folge hat, daß die Nervenfäden etwas weiter zentral vor ihrem Eintritt in den Knochen erreicht werden, so empfiehlt es sich, der Injektionsvorschrift das größere Maß zugrunde zu legen. Das Ziel unserer Injektion liegt also 20 mm über dem hinteren Ende des Alveolarrandes des 3. Molaren.
Wo soll man nun die Nadel einstechen? Hier gilt‘ als allgemeiner Satz zunächst der, daß im hinteren Anteil des Oberkiefers eine gerade Nadel niemals senkrecht nach oben geführt werden kann, da sie auch bei weit geöffnetem Munde durch den Unterkiefer immer in eine schräg nach hinten imd oben verlaufende Richtung gezwungen wird. Daraus ergibt sich aber wieder das Postulat, immer vor und unterhalb des Zielpunktes der Injektion einzustechen. In unserem speziellen Falle muß uns noch das Verhalten des Skelettes in der Wahl des Einstichpunktes bestimmen. Von der Alveole des ersten Molaren steigt nämlich eine oft stark vorspringende, immer aber tastbare Leiste gegen den Ursprung des Jochfortsatzes auf, die schon erwähnte Crista zygomaticoalveo laris. Würden wir vor ihr, also noch im Bereiche des 1. Molaren einstechen, so wäre sie bei dem Versuch, weiter längs des Knochens nach hinten und oben vorzudringen, ein Hindernis, das die Nadel immer seitlich abirren ließe. Daraus ergibt sich bereits, daß unser Einstichpunkt hinter dieser Leiste, also im Gebiete des 2. Molaren liegen muß und hier wieder im Gebiete der locker fixierten Schleimhaut , d. h. mindestens 10 mm über der Zahnfleischgrenze , knapp unterhalb des Fomix vestibuli.
Der Weg, den die Nadel nimmt, um vom Einstichpunkt an die Eintrittsstelle der Nerven in den Knochen zu gelangen, muß vor allem ununterbrochen am Knochen entlang führen; ein Abweichen vom Knochen ist einerseits deshalb zu vermeiden, weil eine Injektion in die Weichteile hinter dem Tuber maxillae natürlich wirkungslos bleiben muß; es birgt aber andererseits auch eine Gefahr in sich, nämlich die Verletzung des mächtigen Venengeflechtes, das sich hier aus der Tiefe der Fossa pterygopalatina längs der Schädelbasis in die Fossa infratemporalis fortsetzt, des Plexus pterygoideus. Dessen Venen sind so weit, daß eine Injektion von Flüssigkeit in sie leicht möglich wäre. Es muß also die Nadel vom Augenblick des Einstiches bis zur Erreichung des Zielpunktes in stetem Kontakt mit dem Knochen bleiben.